Als chronische Erschöpfung, international bekannt als „Chronic Fatique Syndrom“ (CFS) bezeichnen die Mediziner seit längerem einen körperlichen und psychischen Ermüdungszustand, der sich auch nach langem und tiefem Schlaf oder einer Erholungskur nicht bessert. Am Ende des 19. beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es dafür die Bezeichnung „Neurasthenie“. Davon war damals hauptsächlich das „schwache“ Geschlecht betroffen. Heute klagen Hunderttausende Angehörige beider Geschlechter gleichermaßen über CFS. Vieles spricht dafür, dass diese Symptome psychosomatischen Ursprungs sind.
Der kanadische Historiker und Medizinsoziologe Edward Shorter hat sich in seiner im Jahre 1992 unter dem Titel „From Paralysis to Fatique. A History of Psychosomatic Illness in the Modern Era“ (1994 auf Deutsch unter dem Titel „Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten“) erschienen umfangreichen Studie mit dem CFS beschäftigt. Er verweist dabei auf die vom berühmt-berüchtigten Pariser Neurologen Jean-Martin Charcot (1825-1893) als Chefarzt der noch heute bestehenden Klinik Salpêtrière im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschriebenen häufigen hysterischen Lähmungen bei Damen aus besseren Kreisen. Diese und andere angeblich erblichen psychosomatischen Beschwerden verschwanden jedoch nach Charcots Tod, wie andere Modeerscheinungen, ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren. Das heißt, die Patientinnen hatten Theater gespielt, um dem Meister zu gefallen.Shorter hielt auch CFS in gewisser Hinsicht für eine Mode-Krankheit, indem er sie als Folge des individualistischen postmodernen Lebensstils hinstellte. Er vermutete, hinter CFS stehe die Somatisierung von Depressionen, zumal es lange Zeit sozusagen zum guten Ton gehörte, psychische Symptome auf organische Ursachen zurückzuführen.
Prof. Øystein Fluge vom Haukeland Hospital in Bergen/Norwegen sieht das anders. Er vermutet, dass die CFS-Patienten aufgrund eines Fehlers ihres Immunsystems dauerhaft die Fähigkeit eingebüßt haben, aus Zucker beziehungsweise Kohlehydraten über den Citrat-Zyklus und die anschließende Atmungskette der Mitochondrien effizient Energie zu gewinnen. Statt mit Kohlehydraten müssten diese Menschen dann ihren Energiebedarf überwiegend mithilfe der Verdauung von Aminosäuren und Fetten decken, was weniger effizient ist.
Um diese Hypothese zu testen, analysierten Fluge und seine Mitarbeiter das Blut von 200 Patienten mit CFS und 102 Probanden ohne Erschöpfungs-Symptome. Sie fanden, dass die Konzentration gerade der α-Aminosäuren, die sich als Energiequelle eignen, im Blut der weiblichen CFS-Patienten extrem niedrig war. Bei den männlichen CFS-Patienten hingegen fehlte dieser Befund. Deshalb vermutet Fluge, dass die Männer die energetisch verwertbaren α-Aminosäuren eher aus den Muskeln als aus dem Blut entnehmen. Im Blut der CFS-Patienten beider Geschlechter wurden hingegen anormal hohe Konzentrationen von Enzymen gemessen, die die Aktivität der Pyruvat-Dehydrogenase (PDH) hemmen. PDH ist das Schlüsselenzym für die Einschleusung von Kohlehydraten in den Zitronensäure-Zyklus über das Acetyl-Coenzym A. Fehlt die PDH, entsteht aus Pyruvat (Traubensäure) statt Acetyl-CoA Milchsäure (Lactat) mit manchmal unangenehmen Begleiterscheinungen wie Muskelkater. Und aus einem Glukose-Molekül entstehen dabei nur zwei Moleküle Adenosintriphosphat (ATP), das als „energetisches Kleingeld“ der Zellen gilt. Über den Citrat-Zyklus und die anschließende Atmungskette können aus einem Glukose-Molekül hingegen insgesamt 30 ATP-Moleküle gewonnen werden. Dieser Riesenunterschied würde erklären, warum sich CFS-Patienten so schlapp fühlen.
Fluge und seine Mitarbeiter stützen ihre Hypothese auf die Beobachtung, dass sich die CFS-Symptome bei den meisten Patienten erstmals nach einer Erkältung oder ähnlich milden Infektion zeigen. Daher vermuten sie, dass einige der vom Immunsystem zur Abwehr der Infektion gebildeten Antikörper ihre Ziele verfehlen und stattdessen die PDH blockieren. Erhärtet wird diese Vermutung durch die Beobachtung, dass es den CFS-Patienten anscheinend bessergeht, wenn die Antikörper bildenden B-Zellen (weiße Blutkörperchen) ihres Immunsystems mithilfe des Krebs-Medikaments Rituximab ausgeschaltet werden. Aber das muss noch durch einen Großversuch bestätigt werden, dessen Resultate erst im nächsten Jahr vorliegen werden. Fluge ist sich aber schon heute sicher: „Bei CFS handelt es sich um einen physiologischen Effekt, nicht um einen psychosomatischen.“
Kann er damit wirklich überzeugen? Tatsache ist, dass Acetyl-CoA nicht nur aus Pyruvat, sondern auch durch die Oxidation von Fettsäuren zu Ketonen gebildet werden kann. Das machen sich die Anhänger der Keto-Diät, die bewusst auf Kohlehydrate verzichten, zunutze. Unter diesen befinden sich nicht wenige erfolgreiche Leistungssportler. Von CFS kann bei diesen keine Rede sein. Sie verströmen lediglich einen unangenehmen Geruch, weil in ihrem Blut statt Glukose Ketone zirkulieren. Fluge räumt denn auch ein, die Ursachenkette von CFS sei wohl viel komplexer als zunächst vermutet. Er verweist auf eine Publikation von Robert Naviaux von der Universität von Kalifornien in San Diego, wonach im Blut von CFS-Patienten auch ein Mangel an Fettsäuren nachgewiesen werden konnte.
Das alles kann die Vermutung, bei CFS handele es sich um somatisierte Depressionen, nicht entkräften. Denn Depressionen spielen sich bekanntlich nicht nur in den Köpfen der Patienten ab, sondern ergreifen ihren ganzen Organismus, der gewissermaßen auf Sparflamme schaltet. Störungen des Immunsystems und Schwermütigkeit können durchaus gemeinsame (innere oder äußere) Ursachen haben. Damit kommt man auf die uralte ungelöste Frage nach der Priorität von Henne oder Ei. Die Patienten stehen jedoch vor der Frage, ob sie einer Chemotherapie (nach Prof. Fluge) mehr vertrauen sollen als einer Psychotherapie.
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