Im Rahmen der von Brüssel lancierten „Vom Hof auf den Tisch“-Strategie (auch bekannt als „Farm to Fork“ oder F2F) ist die Debatte über Nährwertdeklarationen auf der Vorderseite von Verpackungen in vollem Gange und betrifft nun alle EU-Mitgliedsländer. Polen, welches erst spät realisiert hat, was die Beamten in Brüssel planen, könnte deshalb bezüglich seiner Ernährungstraditionen einige Überraschungen erleben, sollte der von Frankreich erstellte Nutri-Score das Verpackungslabel der Wahl werden. Erst kürzlich habe ich dieses Thema in einer Kolumne der polnischen Zeitschrift Wszystko co najwazniejsze erläutert. Der hier im European Scientist erscheinende Artikel ist eine Adaption des polnischen Textes.
Europas Suche nach einem Nährwertskennzeichnungssystem
Anfang Oktober stimmten die Mitglieder des deutschen Bundesrates der freiwilligen Nutzung des Nutri-Score zu. Damit sind deutsche Lebensmittelfirmen fortan berechtigt, Nutri-Score auf Verpackungen anzubringen, womit sich Deutschland zu der Gruppe der Länder gesellt, die sich bereits für dieses Kennzeichnungssystem französischer Herkunft entschieden haben, nämlich Frankreich, Belgien und Spanien.
Allerdings ist die EU in Sachen Nutri-score gespalten. Dem pro-Nutri-Score-Lager tritt eine Koalition aus sieben EU-Mitgliedsstaaten – Tschechien, Zypern, Griechenland, Ungarn, Litauen und Rumänien – unter der Führung Italiens entgegen. Diese Gruppe fordert eine Reihe von Prinzipien, die bei der Auswahl des für die EU am angemessensten Nährwertkennzeichnungssystems beachten werden sollten.
Dabei müssen wir uns vor Augen halten, dass all diese Initiativen im Rahmen des Vom Hof auf den Tisch-Plans ablaufen und Italien ein konkurrierendes Kennzeichnungssystem namens Nutrinform unterstützt. Für einen außenstehenden Betrachter mag diese Debatte als ein esoterischer Streit zwischen EU-Staaten erscheinen. Aber der Schein trügt, denn wie wir sehen werden, steht bei diesem Wettbewerb sehr viel auf dem Spiel. Letztendlich geht es um die Ernährungsentscheidungen jedes EU-Mitglieds – und damit um die jedes EU-Bürgers.
Ein Ampelsystem für die richtige Kaufentscheidung?
Kunden von Auchan Polska könnten bereits auf den Nutri-Score gestoßen sein.
Befürworter dieses Systems bestehen auf der Tatsache, dass es seinen Konkurrenten einen Schritt voraus sei, weil es seit zwei Jahren in den Regalen des französischen Einzelhandels zu finden ist. Die „Nutri-Score-Philosophie“ lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen: Nährwertinformationen werden sozusagen vorverdaut, um dadurch die Verbraucher so zu konditionieren, dass sie instinktiv auf bestimmte Farbkodierungen reagieren. Demnach wird ein Produkt mit der Kennzeichnung A-grün dringend empfohlen, während eins mit E-rot dringend vermieden werden sollte. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich durch Farben die Gewohnheiten des Käufers beeinflussen lassen. Auf einer ähnlichen Prämisse basiert das englische Ampelkennzeichnungssystem, von dem sich die Nutri-Score-Designer offensichtlich inspirieren ließen.
Dieser allzu vereinfachende Ansatz ist jedoch nicht jedermanns Sache und wird von einigen Experten sogar heftig kritisiert. Francesco Capozzi, Professor an der Fakultät für Agrar- und Lebensmittelwissenschaften in Bologna und Begründer des Fachgebiets Foodonomics, sagt über Nutri-Score: „Wir haben uns dafür eingesetzt, dass der Verbraucher eine angemessene Ernährungserziehung erhält. Aber müssen wir wirklich anfangen, unsere Bürger wie Kinder zu behandeln?
Der anti-Fett-Algorithmus
Aber welcher Verbraucher würde sich nicht ein System wünschen, das die Auswahl so weit erleichtert, dass er keine Fragen mehr stellen muss? Ist das nicht jedermanns Traum? Leider gibt es eine Kehrseite des Ganzen. Wenn einige Experten schon so weit gehen zu behaupten, dass solche Systeme die Verbraucher zu „Pawlows Hunden“ machen möchten – um es mit den Worten von Guy-André Pelouze in Le Monde zu sagen – dann liegt es an der Tatsache, dass diese zu starke Vereinfachung irreführende Richtlinien produziert.
Professor Legrand, ein weiterer Lebensmittelspezialist, bemerkt über das Nutri-Score-System: „Tatsächlich liefert es keinerlei Informationen über die Zusammensetzung der Nahrung, sondern liefert lediglich ein Gesamturteil über sie. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als eine Meinung oder ein Urteil.“ Und weiter: „Darüber hinaus kann die jeweilige Beurteilung voreingenommen oder schlecht fundiert sein, weil das Prinzip auf einem Algorithmus beruht, der dem Verbraucher verborgen bleibt.“
Nach Meinung des Experten, der einst eine Kommission der französischen Agentur für Lebensmittelsicherheit (ANSES) leitete, geschieht dies aus guten Grund, nämlich weil der Nutri-Score-Algorithmus in Bezug auf Fette falsch ist: „Die empfohlene Aufnahme von Fettsäuren (ANC) liegt bei 35 % bis 40% der Energiezufuhr der Nahrung; der Verbrauch in Frankreich liegt bei 37%, was einen idealen Wert darstellt. Warum also dieser erbitterte Kampf gegen Fette beim Nutriscore-Algorithmus? Dieser ist veraltet und entbehrt jeder Grundlage, auch wenn auf individueller Ebene viele Menschen im Verhältnis zu ihrem Energieverbrauch tatsächlich zu viel Kohlenhydrate und Fette konsumieren.“
Die Polen werden sich bald ebenfalls über dieses Problem Sorgen machen müssen.
Polens Tische sehen rot!
Die Kritik der Experten am Nutri-Score spiegelt in gewisser Weise ein anderes Problem wider: das der „EU, die wir wollen“. Ist es eine Europäische Union, die die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsländern respektiert, oder ist es ein System, das jedem Land nicht nur die gleichen Regeln, sondern auch die gleichen Bräuche auferlegen will? Dies ist eine ernste Frage mit der man sich befassen sollte. Denn der Nutri-Score bringt durch seine Neigung, uns unsere Ernährung vorschreiben zu wollen, ein Element der Vereinheitlichung mit sich welches letztendlich bestimmte Ernährungsweisen zum Nachteil anderer begünstigen würde.
Italiener und Spanier bemerkten die Voreingenommenheit des Nutri-Score gegenüber der mediterranen Ernährungsgewohnheiten zuerst und haben diese Benachteiligung stets angeprangert. Wie sonst kann man auf die Tatsache reagieren, dass Olivenöl oder Parmaschinken, die bekanntermaßen keine ungesunden Produkte sind, weniger hoch bewertet werden als bestimmte zuckerhaltige Erfrischungsgetränke? Angesichts dieses Unsinns stellten sich Italiens Politiker die Frage, ob Nutri-Score tatsächlich den Verbrauchern helfen oder doch eher bestimmte Lebensmittelmarken fördern soll.
Sobald Polens Verbraucher feststellen, dass Vorzeigeprodukte der polnischen kulinarischen Tradition, zum Beispiel Kabanosy, Kielbaski Slaskie, Ptasie Mleczko oder sogar das berühmte Oscypki aus Zakopane, die schlechteste Note (ein rotes E) erhalten, werden sie den gleichen Schock erleben wie ihre Kollegen in den Ländern, die sich der anti-Nutri-Score-Koalition angeschlossen haben und sich in ihrer Kultur angegriffen fühlen. Die orangefarbene D-Note, die dem Filety Sledziowe und dem Majonez Kielecki verliehen wurde, wird wahrscheinlich nicht zu ihrer Tröstung beitragen.
Ich persönlich kenne und schätze die polnische Küche. Und ich weiß, dass sie gesund ist, weil sie im Wesentlichen auf nur minimal verarbeiteten Produkten basiert – eine heutzutage von Ernährungswissenschaftlern hoch geschätzte Eigenschaft. Entscheidet sich Brüssel für den Nutri-Score, so werden die traditionellen Produkte der polnischen Küche leider ebenso schlecht bewertet werden wie die der mediterranen. Werden die Polen, die diesem reduktiven Algorithmus unterworfen sind, der willkürlich und undifferenziert nach Fett jagt, von ihren kulinarischen Traditionen entfremdet und beginnen, die gleiche Diät einzuhalten wie die Franzosen, die zunehmend unter der Fuchtel des Nutri-Score-Indikators stehen und seiner täglichen Propaganda unterworfen sind? In Frankreich sind inzwischen fast alle Produkte mit dem Nutri-Score gekennzeichnet. In der Werbung wird er wohlwollend erwähnt, und ich frage mich oft, wie bestimmte Lebensmittel ihr wertvolles grünes A erhalten haben! (1)
Lassen Sie keinen Zweifel daran aufkommen. Wenn wir zu einem Punkt kommen, an dem alle europäischen Länder dieses sehr schiefe Bewertungssystem übernehmen, wird dies für einige nur ein weiterer Grund für die Annahme sein, Brüssel wolle die lokale Küche, ein Kernelement nationaler Identität, bestrafen. Aber bevor wir diesen Punkt erreichen, kann sich Polen in der Kommission Gehör verschaffen und sich der Koalition der Länder anschließen, die unsere Küche für ein viel zu ernstes Thema halten, als dass man es auf eine Ampel reduzieren könnte – vor allem, wenn Europa stattdessen wie ein 27-Sterne-Restaurant aussehen könnte.
(1) Kürzlich sah ich im Fernsehen einen Werbespot einer Müsliriegel-Marke, die sich mit einem A von Nutri-Score rühmte. Stellen Sie sich nur all die Eltern vor, die diese Botschaft sehen und ihren Kindern dieses ultra-süße, ultra-verarbeitete Produkt in dem Glauben zu essen geben, es tue ihnen gut.
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