Professor Philippe Legrand ist Direktor des Labors für Biochemie und menschliche Ernährung im Institut Agrocampus-INSERM in Rennes, NuMeCan. Als Mitglied der ANSES hat er das Buch „Coup de pied dans le plat“ veröffentlicht. TheEuropeanScientist hatte die Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen. An dieser Stelle erläutert Legrand sein Verständnis von gesunder Ernährung und sein Fachwissen über die Nährwert-Kennzeichnungssysteme wie Nutriscore.
TheEuropeanScientist: In Ihrem Buch „Coup de pied dans le plat“ beschreiben Sie, worum es bei gesunder Ernährung geht. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Professor Philippe Legrand: Es ist sehr wichtig, ein gutes Verständnis dafür zu haben, was gesunde Ernährung bedeutet. Eine vereinfachte Antwort könnte lauten: „Man sollte Erkrankungen, Fettleibigkeit etc. möglichst vermeiden.“ Aber damit es gar nicht erst dazu kommt, sollten wir uns bemühen, uns gesund zu ernähren, gesund aufzuwachsen, zu leben und alt zu werden. Die Nahrung ist in erster Linie eine Quelle von Nährstoffen, und nicht von Medizin.
- Zunächst einmal ist es wichtig, die Ernährungsvielfalt zu gewährleisten, die die omnivore Natur des Menschen vorschreibt, und zwar ohne jegliche Einschränkungen.
- Weiterhin sollte man darauf achten, dass die Energiezufuhr (Portion) angepasst und nicht übermäßig ist… das bedeutet eine genaue Reflexion eines jeden Einzelnen, aber auch der Nahrung.
- Schließlich gibt es eine weitere Komponente, die allzu oft übersehen wird: die Freude am Essen und an der Geselligkeit. Dieser Faktor ist ein integrierter Bestandteil unserer Ernährung und wird von Experten leider allzu oft vernachlässigt, ist aber dennoch für die Gesundheit unerlässlich.
TES: Bei der Zusammenstellung des Menüs legen Sie großen Wert auf Eigenverantwortung und Aufklärung
Prof. PL: Das macht durchaus Sinn. Denn wenn wir einmal definiert haben, was gesunde Ernährung bedeutet, können wir eine erste Regel ableiten: Es gibt keine falschen Lebensmittel, auch wenn sie alle (auch die natürlichsten) mehr oder weniger unausgewogen sind. Zum Beispiel besteht Öl zu 100 % aus Fett; Fisch- oder Hühnermuskel besteht fast nur aus Eiweiß; Teigwaren bestehen zu fast 100 % aus Glukose in Form von Stärke usw. Es bleibt dem Verbraucher selbst überlassen, seinen ausgewogenen Speiseplan zusammenzustellen, indem er aus all diesen mehr oder weniger unausgewogenen Nahrungsmitteln mit seinem gesunden Menschenverstand und seinem Wissen über Ernährung das Richtige auswählt.
Er ist also derjenige, der verantwortlich ist für seine Ernährung und dementsprechend aufgeklärt werden muss. Natürlich kann sich der Organismus ein wenig anpassen und regulieren, aber nicht im Hinblick auf die aufgenommene Gesamtenergie, die nicht abgeführt werden kann, wenn sie den eigentlichen Verbrauch übersteigt. Die Verantwortung und die Möglichkeiten, die der Verbraucher hat, sind also beträchtlich. Wenn man es sich allerdings recht überlegt, ist das eine gute Nachricht: Der Verbraucher kann die Verantwortung übernehmen und/oder sich von Fachleuten (Ernährungswissenschaftlern) beraten lassen, bevor er „Drüsen, Hormonen, Genen und der Industrie“ die Schuld gibt, schließlich dann aufgibt und auf den „überflüssigen Kilos“ sitzenbleibt. Abgesehen von Erkrankungen müssen wir in der Ernährung und der Primärprävention zunächst über die Quantität aufklären und dann die Qualität der individuellen Verantwortung, der Macht und des gesunden Menschenverstands würdigen.
Aus diesem Grund ist die Aufklärung über Ernährung von grundlegender Bedeutung. Es ist wichtig zu wissen, wie man ein quantitativ und qualitativ ausgewogenes Menü zusammenstellt, das auf einer Vielfalt von Lebensmitteln – von den natürlichsten über die am meisten verarbeiteten bis hin zu den praktischsten – über mehrere Tage oder sogar eine kurze Woche basiert. Wir können alles auf die Speisekarte setzen, aber wir sollten auf Portionen und Mengen achten, die unserem gesunden Menschenverstand und damit unserem Lebensstil entsprechen. Eine gute Aufklärung über Ernährung gewährleistet, dass man in der Lage ist, sein eigenes Menü zusammenzustellen. Anstatt hinsichtlich der Ernährung zu verzweifeln, sollten wir uns darum besser informieren und die beiden entscheidenden Fehler vermeiden: den übermäßigen Verbrauch von Energie und den Mangel an essentiellen Nährstoffen durch Verbote, was unserem omnivoren Naturell nicht entspricht.
TES: Was halten Sie von Nährwert-Kennzeichnungen im Allgemeinen und von Nutriscore im Besonderen?
Prof PL: Zwar ist Aufklärung über Ernährung notwendig, doch bietet die Kennzeichnung von Nährwerten nicht die eigentlichen Grundlagen dafür. Natürlich ist jede Kennzeichnung ein positiver Ansatz hinsichtlich des Zugangs zu mehr Informationen. Aber nicht alle Kennzeichnungssysteme sind gleich. Sie erwähnten Nutriscore, und bedauerlicherweise trägt dieses Programm nicht wesentlich zur Verbesserung der Ernährungserziehung der Menschen bei.
Tatsächlich liefert es keinerlei Informationen über die Zusammensetzung der Nahrung, sondern liefert lediglich ein Gesamturteil über die Nahrung. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als eine Meinung oder ein Urteil. Somit ist es in Bezug auf wissenschaftliche Angaben eher schwach. Darüber hinaus kann die jeweilige Beurteilung voreingenommen oder schlecht fundiert sein, weil das Prinzip auf einem Algorithmus beruht, der dem Verbraucher verborgen bleibt. Insbesondere sind aber Grundlage und Eckpfeiler dieses Algorithmus fragwürdig und werden viel diskutiert. Als französischer Spezialist für Fette kann ich, nachdem ich viele Jahre lang die Entwicklung des ANC (Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr des ANSES) für Fette geleitet habe, bestätigen, dass die Lipidsäulen-Theorie dieses Nutriscore-Algorithmus fehlerhaft ist, weil sie veraltet ist, und in völligem Widerspruch zum ANC des ANSES steht.
Ich werde im Folgenden daruf noch etwas ausführlicher eingehen. Die empfohlene Aufnahme von Fettsäuren (ANC) liegt bei 35 % bis 40% der Energiezufuhr der Nahrung; der Verbrauch in Frankreich liegt bei 37%, was einen idealen Wert darstellt. Warum also dieser erbitterte Kampf gegen Fette beim Nutriscore-Algorithmus? Dieser ist veraltet und entbehrt jeder Grundlage, auch wenn auf individueller Ebene viele Menschen im Verhältnis zu ihrem Energieverbrauch tatsächlich zu viel Kohlenhydrate und Fette konsumieren. In der Tat hängen die Probleme von Übergewicht in erster Linie von der Menge ab, die der Einzelne konsumiert, und nicht vom prozentualen Fettanteil in der Nahrung.
Auch aus anderen Gründen ist die Theorie der Lipidsäulen fehlerhaft: Wie alle jüngsten Meta-Analysen zeigen, ist der Kampf gegen gesättigte Fettsäuren (SFA) völlig unzeitgemäß, und zwar wegen der fehlenden Unterscheidung (in den Nutriscore-Algorithmen) zwischen den verschiedenen „gesättigten“ Stoffen, die dennoch wichtige Funktionen und sehr unterschiedliche Wirkungen mit sich bringen. Nicht berücksichtigt wird schließlich die Tatsache, dass die gesättigten Fettsäuren in unserem Körper zum größten Teil aus im Überfluss aufgenommenen Zuckern und aus Alkohol stammen. Es ist nicht einfach, diese schon seit 50 Jahren herrschende Abneigung gegen Fette einfach abzuschalten! In erster Linie, weil unsere Bäuche und Weichteile zwar durchaus aus Fetten bestehen, aber verschiedene Ursachen haben: Kohlenhydrate, Alkohol und Fette. Dies sind Hinweise auf einen allgemeinen, aber nicht spezifisch fettreichen Energieüberschuss. Das ist inzwischen allgemein bekannt – außer bei Nutriscore!
Veranschaulichung: Bei Nutriscore werden alle Öle zwischen C und E und die meisten zwischen D und E eingestuft. Warum schneiden diese so schlecht ab, wenn sie zwischen A und E liegen sollten, in Abhängigkeit von ihrem Gehalt an essentiellen Fettsäuren, Omega-6-, Omega-3- und gesättigten Fettsäuren? Es herrscht immer noch der Irrglaube vor, dass es sich um „Fett“ handelt. Es ist immer noch erstaunlich, dass Light-Limonaden laut Nutriscore noch höher eingestuft wurden als Fruchtsäfte und Olivenöl.
Somit zeigt sich, dass die Entwickler des Nutriscore-Algorithmus, im wahrsten Sinne des Wortes die ANSES-Berichte über Fette mit einbezogen haben. Dies bekräftigt die Aussage, dass es sich beim Nutriscore hauptsächlich um eine dogmatische Meinung, eine globale Beurteilung der Lebensmittel und nicht wirklich um ein Mittel zur Aufklärung handelt.
Ein weiterer kritischer Punkt: Der Nutriscore hätte mit seinem Ziel, die Entwicklung der Lebensmittelindustrie zu fördern, auf verarbeitete und hergestellte Lebensmittel beschränkt werden müssen, ohne dabei natürliche Grundnahrungsmittel (z.B. Öl, Milchprodukte, Brot, Zucker, Fisch) einzubeziehen. Dies hätte seine Glaubwürdigkeit verbessert und die unten erwähnten negativen Auswirkungen abgeschwächt.
Ein letzter Punkt: Die Anwendung von Nutriscore rückt Lebensmittel, deren weit verbreiteter, aber vernünftiger Konsum nicht zwangsläufig nachteilig ist (z.B. Schokolade mit der Bewertung E) in ein negativeres Licht. Die Folge sind orthorexische und restriktive Ansätze bei Verbrauchern mit niedrigem Einkommen. Aber ist Nutriscore für große Schokoladen-Konsumenten notwendig, um zu wissen, wann sie zu viel davon gegessen haben?
TES: Auf philosophischer Ebene haben Sie auch Kritik an diesem System zu üben.
Prof. PL: Ich teile voll und ganz die Meinung von Nutriscore, dass „die Absicht das Handeln in Ermangelung einer Beweisführung rechtfertigt“ (JP Laplace). Die gesundheitlichen Vorteile dieses Systems sind in der Tat nie erwiesen worden, denn es wurde lediglich nachgewiesen, dass sich dadurch die Zusammensetzung des Warenkorbs verändert hat. Aber in welche Richtung, für welche Verbraucher und mit welchen gesundheitlichen Auswirkungen? Verbesserung der objektiven Gesundheitskriterien oder Verschlechterung der Ungleichgewichte für bestimmte Gruppen? Orthorexische Verhaltensweisen?
Außerdem beinhaltet der Nutriscore eine Art von Verbot, was Ängste erzeugt und Verhaltensweisen verschlimmert – siehe die Orthorexis, über die wir vorhin gesprochen haben.
Hinzu kommt, dass die vereinfachte Verwendung einiger weniger farbiger Buchstaben die Esskultur der Verbraucher nicht fördert. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter sagte sogar, nicht ganz ohne Humor, über Nutriscore: „Die Konditionierung von Laborratten ist nicht weit davon entfernt.“
Das Ganze führt zu einer ausschließlichen und negativen Neuausrichtung auf die Missstände im Bereich der Ernährung und wirft die grundlegende Frage auf: Wem sollen wir die Ursache unserer Beschwerden zuschreiben, wer ist schuldig: der Konsument oder das Essen? Aus meiner Sicht ist es ganz offensichtlich, dass beide unrecht haben, aber der Konsument bleibt der unmittelbare „Verantwortliche – aber nicht der Schuldige“, er ist es, der seinen Teller füllt und die Gabel zum Mund führt. Bei Nutriscore ist es das Gegenteil: Wir verurteilen das Essen von vornherein, anstatt zu versuchen, den Konsumenten aufzuklären, obwohl er über einen gesunden Menschenverstand verfügt und man ihm vertrauen kann, sobald er ein Mindestmaß an Aufklärung über die Ernährung erhalten hat. Die Schuld zu sehr dem Essen anzulasten ist höchstens zweckwidrig, schlimmstenfalls schädlich. Diese Denkweise ist aber so populär und ideologisch, weil somit die Schuldzuweisung an unsere Zellen, unsere Hormone, unsere Gene und damit an unsere Eltern und die zweifelhaften Industrien und so weiter ermöglicht wird. Wenn wir konstruktive Kritik an der Industrie üben wollen, wäre es besser, eine Diskussion bzw. einen Kampf über die Portionsgrößen zu führen, um die Industrie zu motivieren, kleinere Portionen anzubieten. Schließlich ist es schwierig, das, was gekauft wird, nicht zu essen, auch wenn es dann nur verschwendet wird.
Gestatten Sie mir, eine letzte Frage bzw. Kritik aus wirtschaftlicher Sicht zu formulieren: Es hat sich gezeigt, dass rote Produkte wahrscheinlich weniger konsumiert werden. Deshalb sinken ihre Preise, und dann sind es letztendlich dann die Ärmsten, die sie kaufen?
TES: Sie sprechen von einer ideologischen Konfrontation bezüglich der Wirksamkeit von Nutriscore auf offizieller Ebene…
Prof. PL: Ganz genau! ANSES veröffentlichte 2017 eine Mitteilung, in der auf eine „unzureichende Beweiskraft zum Nachweis der Relevanz dieser Nährwert-Kennzeichnungen für Fragen der öffentlichen Gesundheit“ hingewiesen wird. Die Verantwortlichen von Nutriscore berücksichtigten diese Überlegung jedoch nicht, und der Hohe Ausschuss für öffentliche Gesundheit (HCSP), obwohl er seine diesbezügliche Haltung nicht begründen konnte, führte Nutriscore ein. Ja, es gibt in der Tat eine ideologische und methodologische Konfrontation: ANSES verbreitet und beschreibt den Stand der Wissenschaft auf der Grundlage langer, gründlicher und kompetenter gemeinschaftlicher Gutachten, während sich der Nutriscore mit der Kraft eindringlicher „Bürger“-Petitionen sowie dogmatischer und fragwürdiger Meinungen durchsetzt.
TES: Was sieht Ihrer Meinung nach die optimale Nährwert-Kennzeichnung aus?
Prof. PL: Es gab auch noch andere, aufschlussreichere Möglichkeiten, die sich auf Portionsgrößen und -mengen konzentrierten und dem Verbraucher Informationen über das Gewicht und/oder die Kalorienmenge (in Portionen) der 5 Hauptnährstoffgruppen lieferten: Kohlenhydrate, Fette, Proteine, Vitamine, Mineralien. Dies ist zum Beispiel der Fall beim Nutri-Colour-System oder bei HEALTHY. Der relative Beitrag dieses Anteils zum Tagesbedarf könnte ebenfalls hinzugefügt werden. Viele Wissenschaftler und Ernährungswissenschaftler waren der Ansicht, dass diese Modelle sinnvoller und aufschlussreicher wären, obwohl sie wussten, dass die Verantwortung für die Erziehung schon von Kindesbeinen an verstärkt bei den Eltern, Lehrern und Ausbildern, den Fachleuten des Gesundheitswesens liegt, aber das ist eine andere Geschichte.
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