Bild: Max-Plack-Institut für Kernphysik
Jedes Schulkind lernt, dass der Planet Erde von den Strahlen der Sonne, die er umkreist, erwärmt wird. Wo die Sonnenstrahlen wegen der Drehung der Erde um ihre eigene Achse nicht hinkommen, kühlt die Erdoberfläche rasch ab. Von einer Fußbodenheizung ist normalerweise nichts zu spüren. Wer im heißen Sommer Abkühlung sucht, findet diese eher im Keller. Fährt man jedoch mit einem Lift in einen tiefen Bergwerksstollen, wird es einem bald so warm, dass man beginnt, Oberbekleidung auszuziehen. Aufgrund von Temperaturmessungen in Tausenden von Bohrlöchern rund um den Globus haben wir heute ziemlich genaue Vorstellungen über die Größenordnung des Wärmeflusses von Erdinneren zur Erdkruste: Sie entspricht der thermischen Leistung von 15.000 Kernkraftwerken. In der Schule lernten wir noch, dass diese Wärme aus der Zeit vor Milliarden von Jahren herrührt, als sich die Planeten aus Ringen glühender Gase bildeten und dann langsam erkalteten.
Inzwischen wissen wir, dass diese Hitze in der heutigen Zeit stattdessen zum großen Teil vom radioaktiven Zerfall schwerer Elemente wie Thorium und Uran im Erdinneren herrührt. Insofern ist der Vergleich mit der Leistung von Kernkraftwerken durchaus gerechtfertigt. Den Beweis dafür erbrachten Forscher des europäischen Neutrino-Observatoriums „Borexino“ im italienischen Gran-Sasso-Massiv. Dieses in einem Felsendom in 1.400 Meter Tiefe installierte Laboratorium dient eigentlich einer ganz anderen Aufgabe: Es soll die mit dem Sonnenwind vom Kernfusionsreaktor Sonne zur Erde gelangenden Neutrinos einfangen. Diese geheimnisvollen Elementarteilchen können bekanntlich Festkörper aller Art durchdringen, als wären sie ein Nichts. Durch das Felsmassiv vor anthropogener Strahlung geschützt, macht dort ein mit Szintillatorflüssigkeit gefüllter großer Nylon-Ballon von 8,5 Metern Durchmesser die Bahnen von Neutrinos sichtbar. Die so registrierten Neutrinos stammen aber nicht alle von der Sonne oder aus dem Kosmos.
Seit dem Beginn vor zehn Jahren hat das Borexino-Team insgesamt über 50 Neutrinos identifiziert, die aus dem Beta-Zerfall schwerer Atomkerne stammen müssen. Denn es ist bekannt, dass dabei neben viel Wärme sowohl Neutrinos als auch Antineutrinos entstehen können. Aufgrund der festgestellten Frequenz von jährlich fünf Neutrinos schätzten die Wissenschaftler, dass die natürliche Radioaktivität infolge des Zerfalls schwerer Elemente für mindestens die Hälfte der aus dem Erdinneren dringenden Wärme verantwortlich ist. Die Wissenschaftler vermuten, dass der Anteil des radioaktiven Zerfalls an der Erdwärme vielleicht noch viel höher ist. Genaueres hoffen sie sagen zu können, wenn in China das rund 70 mal größere „Juno“ (Jiangmen Underground Neutrino Observatory) in Betrieb gegangen sein wird. Falls es nicht durch die Coronavirus-Epidemie zu wesentlichen Verzögerungen kommt, wird das im kommenden Jahr so weit sein. Die Forscher hoffen, mit dem größeren Detektor mehr Neutrinos je Zweiteinheit nachweisen zu können, was die Statistik verbessern würde. Schon jetzt glauben die Forscher aber ausschließen zu können, dass sich das spaltbare Material in Erdkruste und Erdmantel so weit verdichtet, dass ein „natürlicher Kernreaktor“ wie in Oklo/Gabun entsteht. Dieser hat wohl eine halbe Million Jahre lang mit einer thermischen Leistung von bis zu 100 Kilowatt funktioniert.
Das Borexino-Observatorium erlaubt uns schon jetzt interessante Einblicke in die Funktionsweise unseres Planeten. Die Dynamik des Erdmantels, die Plattentektonik, der Vulkanismus und die die abiotische Synthese von Kohlenwasserstoffen sind kaum zu verstehen ohne kontinuierliche Wärmezufuhr infolge des radioaktiven Zerfalls schwerer Elemente. Ganz nebenbei können so auch grüne Kernkraftgegner, die sich für die Nutzung der Erdwärme (Geothermie) stark machen, von der von ihnen verteufelten Kernenergie profitieren.
M. Agostini et al. (Borexino Collaboration) : Comprehensive geoneutrino analysis with Borexino
Phys. Rev. D 101, 012009 – Published 21 January 2020