Vom Menschen hergestellte Materialien sind präzise auf dessen Bedürfnisse abgestimmt. Sie werden nach unserem Nutzen geformt. Allerdings sind sie auch vom Zerfall bedroht. Mit der Lebenszeit schreitet auch die Alterung voran, die Materialien werden brüchig, nutzen sich ab und werden schwächer. Irgendwann müssen sie ersetzt werden. Pflanzen hingegen werden durch ihr Wachstum mit der Zeit immer stärker. Umso älter sie werden, umso mehr Gewebe festigt sich. Dadurch, dass sie ständig ihre Bestandteile erneuern, werden sie größer und stärker. Diese Fähigkeit nutzen die Forscher des europäischen Projekts Flora Robotica.
Das Team aus Informatikern, Robotikern, Zoologen, Zellbiologen, Mechatronikern und Architekten veröffentlichte Ende Oktober die Ergebnisse ihrer Untersuchung im Journal Open Science der Royal Society. Ihr Forschungsprojekt arbeitet an der Entwicklung bio-hybrider Roboter, die mit Pflanzen interagieren, um während des Wachstums ihr Form zu beeinflussen. Zum Projekt Flora Robotica gehören Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Polen und Dänemar unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Heiko Hamann vom Institut für Technische Informatik der Universität zu Lübeck. Im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 wird Flora Robotica seit 2015 gefördert.
Flora Robotica nutzt die natürliche Pflanzenkraft
Pflanzen können ihre Umwelt wahrnehmen und auf Veränderungen reagieren. Der Mensch macht sich diese Fähigkeit der komplexen Organismen schon lange zunutze. In der Geschichte haben vor allem Gärtner und Kunsthandwerker die natürliche Stärke der Pflanzen für ihre Zwecke eingesetzt, indem zum Beispiel Hecken und Bäume in Form brachten. In Indien gibt es in Meghalaya sogar lebende Brücken. Dort wurden Brücken aus lebenden Pflanzen gebildet, denn im feuchten Klima sind sie weitaus stabiler und widerstandsfähiger als Stahlkonstruktionen. Im Projekt Flora Robotica wird das Pflanzenwachstum durch bio-hybride Roboter beeinflusst. Die Technik kooperiert mit den Pflanzen und automatisiert ihre Formung. Durch den Einsatz des bio-hybriden Roboters wird die Fähigkeit der Pflanzen Entscheidungen zu treffen erweitert und der Mensch kann das Wachstum hinsichtlich der Form maßgeblich beeinflussen.
Reizen mit Licht
Um eine Pflanze im Wachstum für die gewünschten Zwecke zu formen, nutzt Flora Robotica die Reaktionsfähigkeit der Planzen. Mit Lichtreizen provozieren die Roboter eine Reaktion, durch die die Pflanzen in ihrem Wachstum geleitet werden können. So werden Formen möglich, die sich durch andere Techniken nicht erzielen lassen. Die Roboter nutzen die natürliche Reaktion der Pflanzen auf ihre Umwelt, indem sie gezielt Lichtreize an die Pflanzen senden. Dadurch wird deren Wachstum in Formen und Muster geleitet, die ansonsten so nicht entstehen würden. Der Einsatz von Robotern in der Pflanzenzucht ist nichts komplett neues, automatisierte Gewächshäuser gibt es zum Beispiel schon länger.
Allerdings geht das Projekt Flora Robotica einen Schritt weiter. Ziel des Forschungsvorhabens ist eine durchgehende Beeinflussung des Pflanzenwachstums, um so organische architektonische Gebilde zu züchten, wie sie bisher nicht möglich waren. Mit der Roboter-Technologie könnte eine völlig neue Pflanzenarchitektur entstehen. In Zukunft könnten Mauern, Möbel und Häuser aus Pflanzen Teil einer nachhaltigen Stadtplanung sein und unsere Lebensweltdamit tiefgreifend verändern.