Edgar L. Gärtner
Damit sie sich vom Stress erholen, rät man den Menschen gemeinhin, eine Auszeit zu nehmen und sich an einen stillen Ort zurückzuziehen. Dieser Rat erweist sich in den meisten Fällen auch als nützlich. Doch können Reizarmut und Einsamkeit bei längerer Dauer selbst zu Stressfaktoren werden, die im menschlichen Hirn ihre Spuren hinterlassen. Das hat man bereits bei Astronauten beobachtet. Es gab darüber aber noch keine Untersuchung, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Nun bot sich dem Team um Alexander Stahn, einem Hirnforscher am Institut für Physiologie der Berliner Charité-Universitätsmedizin, an der Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts auf dem Ekström-Schelfeis der Antarktis die Gelegenheit, die neurologischen Wirkungen des Isolations-Stresses an einer kleinen Gruppe von fünf Männern und vier Frauen während einer Antarktis-Expedition von 14 Monaten zu verfolgen. Unterstützt wurde Alexander Stahn dabei von Simone Kühn, Leiterin der Lise-Meitner-Gruppe Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden vor Kurzem im New England Journal of Medicine publiziert (https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMc1904905).
Die neun freiwilligen Teilnehmer an der Studie zwischen 25 und 36 Jahren wurden zu Beginn und am Ende des Untersuchungszeitraums einem computergestützten Kognitionstest unterzogen. Geprüft wurden dabei unter anderem die Konzentrationsfähigkeit, die Gedächtnisleistung, die Reaktionsfähigkeit sowie das räumliche Denken. Regelmäßige Bluttests gaben Auskunft über die Konzentration des Neuro-Wachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotropic factor) . Mithilfe eines hoch auflösenden Magnetresonanztomografen (MRT) vermaßen die Forscher Änderungen des Hirnvolumens, insbesondere des Hippocampus. Die gleichen Messungen erfolgten auch an einer neunköpfigen Kontrollgruppe in Berlin.
Die Messungen ergaben, dass sich bei den Expeditionsteilnehmern im Vergleich zur Kontrollgruppe der Gyrus dentatus des Hippocampus, der bei der Festlegung von Gedächtnisinhalten und beim räumlichen Denken eine wichtige Rolle spielt, signifikant verkleinert hatte. Die Veränderungen gingen mit einer Verringerung der Konzentration des BNDF einher. In den Kognitionstests zeigten die Probanden Einschränkungen des räumlichen Denkens und der selektiven Aufmerksamkeit. Bei wiederholten Lern-Tests fiel der Lerneffekt umso geringer aus, je stärker das Volumen des Gyrus dentatus abgenommen hatte. Vermutlich hängt damit auch der zuvor bei den Besatzungen der Raumstation ISS beobachtete Verlust der Sehschärfe zusammen. Die mit Wasser gefüllten Hirnventrikel vergrößerten sich bei elf untersuchten Raumfahrern während ihres Einsatzes um fast zwölf Prozent. Noch ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr von einer Langzeit-Mission im All war bei den Raumfahrern noch eine deutliche Verminderung ihres Hirnvolumens feststellbar. Was genau die beobachteten Hirnveränderungen auslöst, wisse man aber noch nicht, betont Alexander Stahn.
„Angesichts der geringen Anzahl von Probandinnen und Probanden sind die Ergebnisse unserer Studie vorsichtig zu interpretieren“, warnt Stahn. „Sie ergeben aber – wie auch erste Erkenntnisse bei Mäusen – einen wichtigen Hinweis darauf, dass sich extreme Umweltbedingungen negativ auf das Gehirn, insbesondere auf die Bildung neuer Nervenzellen im Gyrus dentatus des Hippocampus auswirken können“, fügt er hinzu. Als nächsten Schritt möchte Stahn mit seinem Team untersuchen, wieweit man mithilfe von sportlichen Übungen den geschilderten Hirnveränderungen entgegenwirken könnte.
Original Publication
Stahn, A. C., Gunga, H.-C., Kohlberg, E., Gallinat, J., Dinges, D. F., & Kühn, S. (2019). Brain changes in response to long-duration Antarctic expeditions. The New England Journal of Medicine, 381, 2273–2275. doi:10.1056/NEJMc1904905