Noch immer tappen die Forscher bei der Suche nach den Ursachen und Auslösern der gefürchteten Alzheimer-Demenz weitgehend im Dunkeln. Die Hypothesen wechseln einander ab. Neuerdings gibt es zum Beispiel die Vermutung, der galoppierende Verlust von Gedächtnis-Leistung habe etwas mit dem Sinken der nächtlichen Körpertemperatur älterer Menschen infolge des Ausfalls von Mitochondrien zu tun. Das jedenfalls schloss der kanadische Mediziner Dr. Frédéric Calon von der Université Laval in Québec kürzlich aus Experimenten mit genmanipulierten Mäusen. Wie weit solche Experimente auf Menschen übertragbar sind, bleibt allerdings einstweilen offen.
Dagegen häufen sich Hinweise auf einen statistischen Zusammenhang zwischen der längerfristigen Einnahme bestimmter Medikamente und dem Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Besonders auffällig ist die Korrelation zwischen der Dauer-Medikation mit Angstlösern und Beruhigungsmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine wie Diazepam (Valium) und dem Auftreten von Alzheimer. Das haben die Forscher um Sophie Billioti de Gage vom nationalen französischen Medizinforschungsinstitut INSERM durch eine Studie an 9.000 über 66-jährigen Patienten schon vor zwei Jahren bestätigt.
Inzwischen hat die junge Fachärztin für Radiologie Dr. Shannon Risacher von der Indiana University School of Medicine zusammen mit etlichen Kollegen eine Erklärung für die neurodegenerative Wirkung von Valium und anderen Beruhigungsmitteln gefunden: Sie hemmen den Botenstoff Acetylcholin, der für die Weitergabe der elektrischen Nervenimpulse an den Synapsen verantwortlich ist, beziehungsweise blockieren dessen Rezeptoren. Auf ähnliche Weise, nur sehr viel stärker, wirken übrigens auch Pestizide auf der Basis von Triphosphorsäureestern wie Parathion (bekannt als das „Schwiegermuttergift“ E 605 forte, dessen Zulassung Anfang 2002 auslief) oder gefürchtete chemische Kampfstoffe wie Tabun, Sarin und Soman.
Die Benzodiazepine sind allerdings, wie Dr. Risacher zeigen konnte, bei weitem nicht die einzigen Medikamente, die Acetylcholin beziehungsweise das dafür notwendige Enzym, die Acetylcholinesterase, mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Unter den ähnlich wirkenden Medikamenten befinden sich neben verschreibungspflichtigen Beruhigungsmitteln wie Diazepam oder Xanax sowie einigen Antidepressiva wie Tofranil und Antihistaminika wie Atarax oder Blutdrucksenker wie Adalat oder Apresolin leider auch verschreibungsfreie Arzneien wie etwa das Antihistaminikum Travegil, das Anti-Durchfall-Mittel Immodium, das in kaum einer Reiseapotheke fehlt, oder Codein-haltige Schmerzmittel wie Nurofen plus. Auf den Schachteln dieser Medikamente wird immerhin darauf hingewiesen, dass sie nicht dauerhaft eingenommen werden sollen. Aber wer kontrolliert das?
Es ist bekannt, dass die Empfehlung, verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel nur kurzzeitig einzunehmen, sehr oft umgangen wird. Gerade ältere Patienten benutzen diese Arzneien nicht selten dauerhaft als Schlafmittel, da sie anders nicht mehr zur Ruhe kommen. Ihre Hausärzte stellen ihnen bereitwillig dafür die Rezepte aus, weil sie keine Alternative sehen. Doch gerade ältere Personen sollten möglichst keine Arzneien schlucken, die Acetylcholin hemmen, rät Frau Risacher.
Sie hat mithilfe bildgebender Diagnoseverfahren wie PET und MRI (fMRT) die Hirne von insgesamt 451 Studienteilnehmern mit einem mittleren Alter von 73 Jahren untersucht. 60 davon nahmen Medikamente, die Acetylcholin hemmen. Die meisten von ihnen wiesen ein verringertes Hirnvolumen und größere Ventrikel (Hohlräume im Innern des Hirns) auf. Außerdem zeigten die gewonnenen Bilder, dass der Hippocampus dieser Probanden (die Hirnregion, in der das Zentrum des Gedächtnisses vermutet wird) ein niedriges Niveau des Glukose-Stoffwechsels aufwies. In praktischen Tests zeigten diese Patienten auch geringere kognitive Leistungen und Problemlösefähigkeiten als die Kontrollgruppe.
Dr. Risachers Studie wurde im Juni 2016 im Fachmagazin JAMA Neurology veröffentlicht. Diese Studie fußte jedoch, nach dem Eingeständnis der Autorin, auf einer zu geringen Zahl von Probanden. Eine inzwischen von Kathryn Richardson und anderen im British Medical Journal veröffentlichte Fall-Kontroll-Studie an 40.770 Patienten konnte aber den engen Zusammenhang zwischen der Einnahme anticholinerger Anti-Depressiva und Anti-Parkinson-Medikamente und dem Ausbruch von Alters-Demenz eindeutig bestätigen. Sie fanden allerdings keine Beziehung zwischen der Einnahme anticholinerger Verdaungs- und Herz-Arzneien und der Demenz-Häufigkeit.
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