Wie die verschiedenen Zentren des menschlichen Hirns genau zusammenarbeiten, wird wegen ihrer kaum vorstellbaren Komplexität wohl noch lange ein Geheimnis bleiben. Dennoch gibt es in der neurologischen Forschung Teilfortschritte, die uns dem Verständnis bestimmter Hirnleistungen einen großen Schritt näherbringen. Ein schon 2005 im führenden amerikanischen Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlichter Artikel der beiden an der Washington University in St. Louis arbeitenden Hirnforscher Joshua Brown und Todd Braver brachte neues Licht in das Verhältnis zwischen unbewussten und bewussten Vorgängen in unserem Zentralnervensystem. Was die beiden mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) in den Hirnen von Versuchspersonen herausfanden, sorgte jetzt auf einem Wissenschaftskongress in Washington für neue Diskussionen.
Schon seit der „Entdeckung“ des Unbewussten von Siegmund Freud und Carl Gustav Jung, spätestens aber seit den lange Zeit fehlinterpretierten neurophysiologischen Experimenten von Benjamin Libet (1916 bis 2007) gilt der Mensch nicht mehr als Herr im Hause des eigenen Ich. Libets Versuchspersonen sollten zu einem frei wählbaren Zeitpunkt ein Handgelenk bewegen. Den Zeitpunkt ihres Entschlusses sollten sie sich mithilfe eines sich bewegenden Punktes auf dem Bildschirm eines Oszillographen merken. Nach den Angaben der Versuchsteilnehmer erfolgte dieser Entschluss etwa 200 Millisekunden vor dem Beginn der Handlung. Libet stellte jedoch mithilfe von Elektroden an der Schädeldecke fest, dass sich in den für die Handbewegung zuständigen neuronalen Schaltkreisen schon 350 Millisekunden früher, das heißt insgesamt 550 Millisekunden vor dem Handlungsbeginn ein so genanntes Bereitschaftspotential aufgebaut hatte. Die Entscheidung, ein Handgelenk zu bewegen, erfolgte also in Wirklichkeit unbewusst, obwohl die Versuchspersonen den Eindruck hatten, sich völlig frei und bewusst entschieden zu haben. Libet konnte zeigen, dass der falsche Eindruck durch eine automatische Rückdatierung der Entscheidung zustande kommt. Er konnte ferner demonstrieren, dass die Versuchspersonen unbewusst eingeleitete Handlungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt durchaus noch durch ein bewusstes Veto stoppen können. In dieser Veto-Möglichkeit besteht seiner Ansicht nach ein wichtiger Aspekt der Willensfreiheit. Er wies deshalb mit Nachdruck materialistisch beziehungsweise marxistisch eingestellte Kollegen zurück, die versucht hatten, aus seinem berühmt gewordenen Experiment eine Widerlegung der christlich-abendländischen Lehre von der Willensfreiheit abzuleiten.
In seinem im Jahre 2004 auf Englisch und 2005 auf Deutsch erschienenen Buch „Mind Time“ legte Libet seine Time-on-Theorie dar, wonach alle bewussten Gedanken, Pläne und Gefühle unbewusst beginnen. Schnelle Reaktionen im Sport (zum Beispiel beim Zurückschlagen eines 160 Stundenkilometer schnellen Tennisballs) können nur unbewusst erfolgen. Sie werden erst bewusst, wenn die Aktion bereits abgeschlossen ist. Er ging dabei davon aus, dass das subjektive Bewusstsein wesentlich nichtphysischer Natur und deshalb nicht auf neuronale Funktionen reduzierbar ist. Der materialistische Determinismus beruhe ebenso sehr auf nicht falsifizierbaren Glaubens-Annahmen wie sein Gegenpart, der idealistische Dualismus von Leib und Seele, betonte Libet.
Die Bewusstseinsinhalte sind nach Libets Überzeugung unabhängig von neuronalen Funktionen. Er kannte kein Experiment, das Anhaltspunkte für das Gegenteil lieferte. In der Tat: Epilepsie-Patienten, denen aus therapeutischen Gründen die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhälften (Corpus callosum) durchtrennt wurde („Split brain“), fühlen sich noch immer als einheitliches Selbst. Weder sehen sie doppelt noch fühlen sie widerstrebende Handlungsantriebe. Bewusstes Erleben ist, wie Libet selbst zeigen konnte, auch unabhängig vom Prozess der Gedächtnisbildung. Insofern ist der deutsche Untertitel des Libet-Buches („Wie das Gehirn Bewusstsein produziert“) irreführend. Libet selbst setzte „produziert“, vorsichtig wie er war, in Anführungszeichen. Er ging lediglich davon aus, dass Bewusstsein, im Einklang mit seinen Experimenten, „das emergente Resultat geeigneter neuronaler Aktivitäten ist, wenn diese eine Mindestdauer von 0,5 sec haben.“
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass Joshua Brown und Todd Braver in ihrem Experiment auf eine Art Frühwarnsystem des Hirns stießen, das die Versuchspersonen vor Fehlentscheidungen warnte – und zwar unbewusst. Es gibt also neben dem bewussten Veto einen unbewussten „sechsten Sinn“. Diesen konnten die Hirnforscher mithilfe der fMRT im vorderen Stirnlappen (auf Englisch: Anterior Cingulate Cortex, ACC) verorten. Die Versuchspersonen mussten am Computerbildschirm durch Drücken auf zwei alternative Tasten Aufgaben lösen. Am Anfang waren die Entscheidungen leicht. Doch dann wurden immer schwierigere Aufgaben eingestreut. Wie die alle zweieinhalb Sekunden registrierten fMRT-Aufnahmen zeigten, konzentrierten sich die Versuchspersonen unbewusst auf die schwierigeren Aufgaben. Dafür bekamen sie vom ACC Signale, die ihnen nicht bewusstwurden. Brown vermutet, dass die Ureinwohner der Pazifikregion, die sich beim verheerenden Tsunami am 26. Dezember 2004 in Sicherheit brachten, indem sie schon vor dem Anrollen der tödlichen Flutwelle höher gelegene Orte aufsuchten, auf diese Weise vorgewarnt worden waren. Viele „moderne“ Menschen hingegen hatten wohl ihrem „sechsten Sinn“ misstraut und mussten das mit ihrem Leben bezahlen.
Zuvor galt die schon seit etwa zwei Jahrzehnten bekannte Hirnregion eher ACC eher als Zentrum für die Konfliktverarbeitung. Es war auch schon bekannt, dass dieses Zentrum bei schweren psychischen Störungen wie Zwangsneurosen und Schizophrenie nicht richtig arbeitet. Joshua Brown wies in Washington darauf hin, dass der ACC durch den bekannten Neuro-Botenstoff Dopamin stimuliert wird. Wieweit sich diese Erkenntnis für die Behandlung psychischer Krankheiten nutzen lässt, ist derzeit noch offen.
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