Mit dem Beginn der warmen Jahreszeit warnt das britische Wissenschaftsmagazin New Scientist vor einer explosiven Vermehrung des Gemeinen Holzbocks (Ixodes ricinus). Diese Blut saugende Zecke ist bei uns der wichtigste Überträger der multisystemischen Infektionskrankheit Borreliose, im englischen Sprachraum besser als Lyme Disease bekannt. Ihren Namen hat die potenziell langanhaltende Entzündung des Nervensystems, der Gelenke und verschiedener innerer Organe von den Orten Lyme und Old Lyme im Bundesstaat Connecticut an der US-Ostküste, wo im Jahre 1975 erstmals ein Massenausbruch dieser Krankheit beobachtet wurde. Die Infektion wird durch das spiralförmige Bakterium Borrelia burgdorferi (Bb) ausgelöst. Der US-Forscher Rick Ostfeld hat beobachtet, dass Masseninfektionen immer im Abstand von etwa anderthalb Jahren auf ein Eichel-Mastjahr folgen. Von den heruntergefallenen Eicheln ernähren sich neben Wildschweinen vor allem Mäuse. Nach einem Herbst mit vielen Eicheln kommt es deshalb im Folgejahr immer zu einer Massenvermehrung von Mäusen. Diese werden leicht von Zecken befallen, die zu einem großen Teil von Borrelien infiziert sein können. Die infizierten Mäuse werden wiederum von anderen Blutsaugern befallen und werden so zum wichtigsten Vehikel der Verbreitung der krankmachenden Bakterien. Eine einzige Maus kann in ihren Blutgefäßen Hunderte von Zecken-Larven beherbergen. In diesem Zustand können die Schädlinge auch gut überwintern, während erwachsene Zecken im Winter dem Kältetod zum Opfer fallen.
Heute gilt die Lyme Borreliose (LB, nicht zu verwechseln mit der durch Viren übertragen Frühsommer-Meningo-Enzephalitis, FSME) als die weltweit am schnellsten um sich greifende Infektionskrankheit. In Amerika rechnet man mit jährlich etwa 300.000 Infektionen. Für Europa schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Zahl der jährlichen Infektionen auf 65.000. Die Krankheit greift jedes Jahr ausgehend vom Süden Richtung Nordosten weiter um sich. In diesem Jahr haben die polnischen Gesundheitsbehörden Alarm geschlagen. Es wird vermutet, dass LB bei der Hälfte aller Patienten mit chronischen Leiden eine mehr oder weniger bedeutende Rolle spielt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Krankheit innerhalb von Familien auch von Mensch zu Mensch beziehungsweise von Schwangeren auf Föten und durch die Muttermilch auf Säuglinge übertragen wird. Da die Symptome der chronischen LB unspezifisch sind, ist es nicht leicht, sie von anderen chronischen Nervenleiden wie Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) abzugrenzen. Bei so gut wie allen Parkinson- und Alzheimer-Patienten hat man übrigens Bb-Antikörper nachweisen können. Ob es einen direkten Zusammenhang zwischen Bb-Infektionen und den genannten Degenerationen des Zentralnervensystems gibt, ist aber unbewiesen.
Im Süden und im Osten unseres Landes können bis zur Hälfte der Holzböcke mit Bb infiziert sein, im Norden sind es nur 5 bis 10 Prozent. Neben Zecken kommen auch Stechmücken, Milben und Pferdebremsen als Überträger in Frage. Aus Österreich werden zwischen 135 bis 300 Infektionen je 100.000 Einwohner gemeldet. In der Schweiz zwischen 25 und 130. 70 Prozent der Meldungen entfallen auf die Monate Juni bis September. Zum Glück führt bei weitem nicht jeder Zeckenbiss zu einer Infektion, sondern je nach dem Durchseuchungsgrad eines Gebietes nur ein bis sechs Prozent.
Erstes Symptom einer Infektion ist die so genannte Wanderröte um die Einstich-Stelle. Sie tritt aber nur in etwa der Hälfte der Fälle auf. Daneben macht sich die Infektion nach 10 bis 14 Tagen durch Grippe-ähnliches leichtes Fieber sowie Ermüdungs- und Erschöpfungsgefühle bemerkbar. So fällt es sehr schwer, eine Bb-Infektion im Frühstadium zu erkennen, zumal dann im Blut in der Regel noch keine Antikörper nachweisbar sind. Bei Verdacht auf eine Bb-Infektion verabreichen deshalb viele Ärzte vorsorglich Antibiotika wie Doxycyclin. Die oft nicht leicht verträglichen Antibiotika müssen aber über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, um mehrere Generationen von Bb bekämpfen zu können. Denn der Vermehrungszyklus von Bb dauert sieben Tage, was für Bakterien ungewöhnlich lang ist. Gelingt es nicht, die Infektion in der Anfangsphase zu stoppen, breiten sich die Erreger nach etwa 4 bis 16 Wochen im ganzen Körper aus. Es kommt zu starken Schweißausbrüchen und anderen Grippe-ähnlichen Symptomen wie Fieber, Glieder- und Kopfschmerzen. Es kommt deshalb auf einen möglichst frühen Behandlungsbeginn an. Für die Prävention und die Behandlung chronischer Bb-Infektionen haben sich Präparate aus dem Bast der tropischen Katzenklaue (Uncaria tomentosa) bewährt. (Wir haben kürzlich ausführlich darüber berichtet.)
Borrelien treten schnell vom Blut ins Bindegewebe über und sind dann sowohl dem körpereigenen Immunsystem als auch dem Angriff von Antibiotika weitgehend entzogen. Das kommt auch daher, dass Bb unter bestimmten Bedingungen lange als Mycoplasma ohne Zellwand überleben kann. Sie sind dann für die meisten auf die Zellwände zielenden Antibiotika nicht mehr angreifbar. Das Mycoplasma kann dann Jahre lang im Latenzzustand bleiben, bis es, von einer stressbedingten Immunschwäche profitierend, zu wachsen beginnt. Dafür braucht es unbedingt Cholesterin. Dieses entzieht es den Zellwänden der Glia-Zellen, die die motorischen Nerven als Nährzellen umgeben. Gehen die Glia-Zellen dadurch ein, wird viel Glutamat frei. Überschüssiges Glutamat wird in Harnstoff umgewandelt. Durch die Abgabe eines Ammonium-Ions kann der Harnstoff zu hochgiftiger Blausäure werden. Diese legt die Mitochondrien, die Kraftwerke der Nervenzellen, lahm. Das erklärt Müdigkeit und Erschöpfung, die nicht nur bei LB-, sondern zum Beispiel auch bei ALS-Patienten beobachtet werden.
Die Fähigkeit, lange Zeit latent als Mycoplasma zu überleben und sogar zu kristallisieren, hat Bb für die biologische Kriegsforschung interessant gemacht. Kritische US-Mediziner vermuten, es sei kein Zufall, dass Borellia burgdorferi zuerst in Lyme von sich reden machte. Denn zwischen der Küste von Connecticut und Long Island liegt die nur wenigen Eingeweihten zugängliche kleine Insel Plume Island (früher Fort Terry genannt), auf der sich ein Hochsicherheitslabor der US-Regierung für biologische Kriegsforschung befindet. Dort kam es im August 2002 infolge eines Streiks der Leiharbeiter zu einem kompletten Stromausfall und damit verbunden zu Lecks in den Unterdruck-Sicherheitsschleusen. Dabei könnte es zur Freisetzung von Borrelien oder kristallinem Mycoplasma gekommen sein, die von Möwen zum Festland verschleppt wurden. Im Auftrag der US-Army arbeitende Wissenschaftler hatten jedenfalls die Herstellung solcher Mycoplasmen zum Patent angemeldet. Die Kristalle können intravenös injiziert, als Aerosol versprüht, mit stechenden Insekten oder über Nahrungsmittel und das Trinkwasser verbreitet werden.
Es gibt gegen die Lyme Borreliose zurzeit keinen für Menschen zugelassenen Impfstoff, wohl aber für Haustiere. Der Pharma-Konzern SmithKline Beecham, heute Glaxo SmithKline (GSK) hatte in den 1990er Jahren einen für Menschen geeigneten Impfstoff namens Lymerix entwickelt, der Ende 1998 von der US Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurde. Doch Limerix wurde wegen der verbreiteten Angst vor neuen Impfstoffen von den Kunden nicht angenommen. GSK nahm den Ladenhüter nach vier Jahren wieder vom Markt. Zurzeit entwickelt die französische Biotech-Firma Valneva ein Nachfolgeprodukt.
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