Moralische Werturteile treffen Menschen mehrfach, jeden Tag. Aristoteles sowie Kant bestanden darauf, dass Moral erlernt werden kann und muss. Aber können wir Moral auch verlernen? Laut einer neuen Studie der London Business School lautet die Antwort „ja“!
Neue Studie erkennt Gewöhnungseffekt
Nach Aristoteles wird der Mensch durch gerechtes Handeln gerecht. Demnach erlernen wir moralisches Verhalten durch Einüben und Gewöhnung. Wer moralisch „gut“ oder sogar vorbildlich handelt, kann Lob erwarten. Wer etwas im moralischen Sinn „falsch“ macht, wird getadelt und verspürt meist Reue.
Wie wir nicht-moralische Verhaltensweisen beurteilen, wird dabei durch reale Ereignisse selbst, aber auch durch die mediale Berichterstattung beeinflusst. Kurz: Je häufiger wir mit unmoralisch gewerteten Taten konfrontiert werden, desto weniger strikt beurteilen wir diese.
Daniel Effron, Professor für organisationales Verhalten an der London Business School, sieht das durch seine Studie bestätigt. Mit „The moral repetition effect“, wie er seine Untersuchung benennt, beschreibt er einen Gewöhnungseffekt, der eintritt, wenn Menschen vermehrt mit moralischen Verfehlungen in Kontakt kommen.
Wie wurde der „moralische Gewöhnungseffekt“ untersucht?
In Effrons Experiment wurden über 3000 Probanden reale und fiktive Schlagzeilen vorgelegt. Anschließend sollten die Teilnehmer ihre emotionale Reaktion auf diese Headlines beurteilen. Die Ergebnisse zeigen, dass ein wiederholter Kontakt mit Negativschlagzeilen, die von Übertretungen handeln, den negativen Affekt auf die Übertretung verringert. Der geringere Affekt führt wiederum zu einem lascheren moralischen Urteil.
Im weiteren Verlauf wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Emotionen zurückzustellen und ihre Werturteile allein auf Basis der Vernunft zu fällen. In diesen Fällen hob sich der moralische Wiederholungseffekt auf.
Was bedeutet der moralische Wiederholungseffekt im Zeitalter von Social Media?
In Zeiten von sozialen Medien und allgegenwärtiger Berichterstattung sind wir tagtäglich mit negativen Berichten und Fake News konfrontiert. Meldungen, die sich viral verbreiten, handeln häufig von moralischen Übertretungen.
Die Algorithmen werten permanent die Interessen der Nutzer aus und führen ihnen Meldungen zu, die in das digitale Nutzerprofil passen. Das führt dazu, dass ein und dieselbe Person mehrfach mit demselben Inhalt in Kontakt kommen kann. Auf Basis der Reaktionen auf den jeweiligen Tweet oder Post (Like, Disslike, Retweet etc.) werden insbesondere die Inhalte nach oben gespült, die stark emotionalisieren. Es erfahren so mehr und mehr Menschen von derselben Nachricht, die allgemeine Empörung nimmt zu. Die neue britische Studie legt allerdings nahe, dass die Empörung des Einzelnen gleichzeitig abnimmt und mit ihr die individuelle Ablehnung von moralisch verwerflichen Verhaltens.
Bild von Rosy – The world is worth thousands of pictures auf Pixabay