Edgar L. Gärtner
Schon vor über 100 Jahren hat mein Landsmann Alois Alzheimer in Frankfurt am Main die Symptome einer geheimnisvollen Form der degenerativen Alters-Demenz als erster detailliert beschrieben. Zu recht trägt diese Krankheit bis heute seinen Namen. Zwar sind seither zu den von Alzheimer aufgeführten Details etliche weitere Beobachtungen hinzugekommen. Aber diese fügen sich noch immer nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild, das Hinweise auf die tieferen Ursachen des Leidens liefert. Inzwischen wurde die gängige Hypothese, die Krankheit sei eine Folge einer kaskadenartigen Ablagerung von Amyloid-Protein in den Hirnzellen, widerlegt. Klinische Tests mit Medikamenten beziehungsweise Antikörpern, die die inkriminierten Amyloid-β-Plaques auflösen sollten, wurden gestoppt.
In diesem Frühjahr wurden klinische Studien mit dem von der Firma Biogen entwickelten viel versprechenden Antikörper Aducanumab, der so genannte Checkpoints des Immunsystems hemmen sollte, abgebrochen. Das sorgte in den Reihen der Alzheimer-Forscher für Ernüchterung und Entmutigung, die bis heute nicht überwunden scheinen. Sicher ist bislang nur, dass die Anhäufung von Amyloid-Eiweiß zwischen den Nervenzellen alleine nicht die Alzheimer-Demenz auslösen kann. Amyloid ist ein natürlich im Körper vorkommendes Eiweiß. Im gesunden Hirn wird das Eiweiß durch das körpereigene Ubiquitin-Proteasom-System gespalten und abgebaut. Bei der Alzheimer-Krankheit verändert sich der Abbau des Amyloid-Vorläuferproteins. Dadurch entstehen sogenannte Beta-Amyloid-Proteine, die sich als Oligomere ansammeln. Diese wiederum verklumpen und bilden die unauflöslichen Ablagerungen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten ß-Amyloid-Plaques. Diese können nicht mehr natürlich abgebaut werden. ß-Amyloid-Plaques allein führen aber nicht zu den Alzheimer-Symptomen. Entscheidend ist wohl die Bildung von Tau-Fibrillen. Längst nicht immer wird die Bildung von Amyloid-Eiweiß vom Auftreten von Tau-Fibrillen begleitet.
Das Tau-Protein ist normalerweise Bestandteil der Mikrotubuli in den Neuronen. Diese feinen Röhrchen dienen dem Transport von Nährstoffen und Hormonen. Bei Alzheimer-Kranken ist das hydrophile, weil basische Tau-Protein durch Hyperphosphorelierung chemisch verändert. Dadurch wird das ursprünglich weiche Protein steif und bildet feine Fasern (Fibrillen), die sich in den Neuronen ansammeln und am Ende zu deren fortschreitenden Zerfall führen. Jun Oh, Lea Grinberg und Kollegen von der University of California in San Franzisco konnten in diesem Jahr nachweisen, dass die Ansammlung hyperphosphorelierter Tau-Proteine und das damit verbundene Absterben von Neuronen in den eng miteinander vernetzten Wach- und Aufmerksamkeitszentren des Gehirns (Locus caeruleus, lateraler Hypothalamus und Nucleus tuberomamillaris) beginnt. Bei verstorbenen Alzheimer-Patienten fanden Oh und Grinberg in diesen Zentren bis zu 75 Prozent abgestorbene Neuronen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die für Schlaf und Wachheit zuständigen Hirn-Zentren schon in den frühen Stadien der Erkrankung zu degenerieren beginnen“, erklärt Lea Grinberg. Jun Oh fügt hinzu: Das Gehirn hat keine Möglichkeit, diesen Verlust zu kompensieren, weil diese funktionell verwandten Bereiche gleichzeitig zerstört werden.“
Schlaflosigkeit und damit einhergehende Einschränkungen der Aufmerksamkeit bei Tag müssen also als erste Hinweise auf eine beginnende Erkrankung an Alzheimer gewertet werden. Um etwas dagegen tun zu können, müsste man aber Genaueres über die Ursachen der pathogenen Veränderung der Tau-Proteine und deren Akkumulation wissen. „Wir müssen uns verstärkt auf die frühen Stadien der Tau-Akkumulation konzentrieren, wenn wir eine wirkungsvolle Therapie finden wollen“, betont Lea Grinberg.
(Alzheimer’s and Dementia, 2019; doi: 10.1016/j.jalz.2019.06.3916)