Der Ausbruch der Coronavirus-Epidemie in China hat der Weltöffentlichkeit schlagartig klargemacht, dass es Wichtigeres gibt als die hypothetische Gefahr einer Überhitzung der Erde durch einen ebenso hypothetischen Treibhauseffekt. 2019-nCoV bietet erstmals die Chance, eine potenzielle Pandemie in statu nascendi zu analysieren und dadurch vielleicht noch zu verhindern. Nach offiziellen Angaben waren am 5. Februar 2020 weltweit 24.600 Personen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert und davon 494 verstorben. Das legt es nahe, eine Sterblichkeitsrate von ungefähr zwei Prozent, das heißt einen Todesfall je 50 Patienten anzunehmen. Diese läge damit deutlich niedriger als beim SARS-Ausbruch im Jahre 2003, .
Doch diese Zahlen erscheinen aus mehreren Gründen zweifelhaft. Videos aus der Millionenstadt Wuhan, wo die Epidemie in der Nähe des Huanan-Marktplatzes ausgebrochen ist, zeigen chaotische Szenen in überfüllten Krankenhäusern und in den Straßen zusammenbrechende Menschen. Christliche Geschäfts-Inhaber, die solche Szenen filmten und über evangelikale Netzwerke international zu verbreiten suchten, wurden verhaftet. Den örtlichen Militärs gelang es so, die Epidemie drei Wochen lang zu verschweigen. Aber da Wuhan als Zentrum von High-Tech-Industrien ohnehin starken internationalen Austausch pflegt, konnte der Ernst der Lage nicht lange verborgen bleiben. Eine in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlichte Reportage vermittelt einen Eindruck über die in Wuhan herrschenden Zustände.
Als die zuständige Behörde schließlich die Stadt Wuhan und auch deren Satelliten-Städte unter Quarantäne stellte, hatten bereits fünf von den elf Millionen Einwohnern die Stadt verlassen. Das traditionell große Reiseaufkommen während des chinesischen Neujahrsfestes sorgte ohnehin dafür, dass infizierte Personen das neue Virus in Windeseile über das ganze Land verteilten. Das war umso leichter, als das Virus während seiner vergleichsweise langen Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen bereits ansteckend ist und die meisten infizierten Personen zunächst keine Krankheitssymptome zeigen. Tödlich verläuft die Infektion in den allermeisten Fällen ohnehin nur bei älteren Personen mit Vorerkrankungen. Im Umkreis des Huanan-Marktes von Wuhan handelte es sich meistens um starke Raucher, deren Lungenfunktion bereits eingeschränkt war.
Was beunruhigt, ist allerdings die Tatsache, dass das Virus offenbar auf dem Luftweg leicht von Mensch zu Mensch übertragbar und hoch ansteckend ist. Darauf weist in Deutschland Clemens Wendtner, der Leiter der Spezialeinheit für hoch ansteckende lebensbedrohliche Infektionen am Münchner Klinikum Schwabing, hin. Wendtner behandelt die Patienten, die sich beim Automobilzulieferer Webasto beim Vortrag einer chinesischen Mitarbeiterin angesteckt haben. Ein kürzerer Aufenthalt in einem gemeinsamen Raum und eventuell ein Handschlag hatten hier genügt, um das Virus zu übertragen. Infolge der langen Inkubationszeit des Virus ist es aber schwierig, die durchschnittliche Zahl der von einer Person infizierten, ausgedrückt durch die Basisproduktionszahl oder Grundvermehrungsrate Ro, abzuschätzen. Diese lag bei SARS lediglich bei 0,5. Bei der saisonalen Grippe liegt sie bei 1,3. Für 2019-nCoV liegen die bisher publizierten Schätzungen zwischen 2,6 und 3,3. Das erscheint hoch, liegt aber deutlich unter dem Ro der Masern, der zwischen 12 und 18 liegt.
Vieles spricht im Augenblick dafür, dass die chinesischen Behörden in Wuhan und Umgebung die Kontrolle über die Entwicklung verloren haben und nicht mehr in der Lage sind, verlässliche Statistiken zu liefern. Auch die Regierung muss zugeben, dass die Zahl der Infizierten ungebremst ansteigt. Um die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen, lassen die Behörden nun durch Tankwagen tonnenweise Desinfektionsmittel in den Straßen Wuhans versprühen. Außerhalb von Festland-China gibt es in mehr als zwei Dutzend Ländern rund 220 weitere Fälle, davon zwölf in Deutschland. Bislang gab es außerhalb Chinas aber nur drei Todesopfer: zwei auf den Philippinen und eines in Hongkong.
Joseph T. Wu und Mitarbeiter von der University of Hong Kong haben versucht, die offiziellen Angaben mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) zu überprüfen. Mithilfe der Daten von SARS und dem statistischen Reiseverhalten der Chinesen im vergangenen Jahr simulierten sie das vermutliche Ausmaß der Epidemie. Sie nahmen an, dass zwischen dem 1. Dezember 2019 und dem 25. Januar 2020 jede mit 2019-nCoV infizierte Person in Schnitt zwei bis drei weitere Personen infiziert hat. Unter dieser Voraussetzung gelangten sie zu 75.815 Erkrankten, davon 461 in Chongqing, 113 in Peking, 111 in Guangzhou, 98 in Shanghai und 80 in Shenzhen.
Um ihre Bevölkerung vor Ansteckung zu schützen und zu verhindern, dass aus der Epidemie eine Pandemie mit möglicherweise Millionen von Todesopfern wird, haben die meisten Industrieländer (einschließlich Deutschland), die mit China im direkten Personen- und Warenaustausch stehen, das klassische Mittel der Quarantäne gewählt. Bislang gilt diese Maßnahme allerdings nur aus Wuhan und Umgebung zurückgeholten eigenen Staatsbürgern, während andere aus dem Seuchengebiet Einreisende an der Grenze zurückgewiesen werden. Schon haben Anhänger der Open-Border-Ideologie begonnen, das als Rassismus zu denunzieren. James P. Pinkerton, ein früherer Mitarbeiter des konservativen US-Info-Kanals Fox News, verweist demgegenüber auf die Erfahrungen auf dem pazifischen Samoa-Archipel während der „Spanischen Grippe“ in den Jahren 1918 und 19. Die „Spanische Grippe“ mit bis zu 50 Millionen Todesopfern weltweit gilt als die größte Pandemie seit der Verbreitung der Pest im späten Mittelalter. Auch das abgelegene Samoa wurde damals von der Grippewelle erfasst. West-Samoa stand damals unter neuseeländischer Verwaltung, während die USA Ost-Samoa regierten. Als Gouverneur diente der US-Navy-Kommandant John Martin Poyer. Als die Nachricht von der Grippe-Pandemie eintraf, ordnete dieser eine sofortige Quarantäne der Infizierten auf Schiffen der Navy an. Der Erfolg: Es gab auf Ost-Samoa keinen einzigen Grippe-Todesfall. Auf West-Samoa, wo die Behörden nichts dergleichen anordneten, fielen hingegen schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung der Grippe zum Opfer. Es ist allerdings fraglich, ob sich Quarantäne-Maßnahmen gegen die Ausbreitung von 2019-nCoV heute als ebenso wirksam erweisen können.
(Fortsetzung folgt.)