Die Ausgangsbeschränkungen im Angesicht der Covid-19-Pandemie werden kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt der schwedische Sonderweg ließ kritische Stimmen lauter werden lassen. Geht es allerdings nach einer neuen Studie, welche im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde, verhinderten die Maßnahmen alleine in Europa den Tod von bis zu 3,1 Millionen Menschen.
Das britische Forscherteam des Imperial College London kommt zu dem Schluss, dass die Ausgangsbeschränkungen, Grenzschließungen, Kontaktsperren und Schulschließungen notwendig waren. Für Ihr Modell legten sie die erfassten Covid-19-Todeszahlen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC zugrunde. Den Verlauf der Infektionszahlen sowie der Reproduktions-Rate ermittelten sie wiederum rückblickend.
Auch ein anderes Team, bestehend aus Wissenschaftlern der UC Berkeley, kam zu einem ähnlichen Ergebnis. So konstatiert Studienleiter Solomon Hsiang, dass „kein anderes menschliches Unterfangen“ jemals in so kurzer Zeit so viele Leben gerettet habe. Alleine in China, Südkorea, Italien, Iran, Frankreich sowie den Vereinigten Staaten von Amerika seien 530 Millionen Infektionen verhindert worden.
Ergebnisse nicht eindeutig
Unterdessen mahnen andere Experten zur Vorsicht. Gerd Antes, Statistiker an der Universität Freiburg, betonte, dass es bei den Studien eine enorme Schwankungsbreite gebe. Schwierig sei eine definitive Bewertung auch deshalb, weil es nicht immer Gewissheit gebe, ob jemand an oder mit Covid-19 gestorben ist. Dennoch sei dies ein „erster Aufschlag, der wichtig auch in der politischen Debatte um künftige Maßnahmen und deren Lockerungen ist“, so Antes.
Gleichzeitig betonen auch die Urheber der Studien, dass die Ansätze durchaus methodische Schwächen hätten. Beispielsweise sei es gut möglich, dass insbesondere zu Beginn der Pandemie Todesfälle übersehen wurden. Ferner gebe es bei der Meldung von Todesfällen länderspezifische Unterschiede. Insgesamt bewerten diese die Maßnahmen dennoch als zielführend und notwendig. Die Übertragungsrate sei in allen untersuchten Ländern von einem hohen auf ein kontrolliertes Niveau gesunken. Gleichzeitig äußern sie, dass es keine Garantie dafür gebe, dass die Pandemie auch weiterhin unter Kontrolle gebracht werde.
Lockerungen könnten Maßnahmen konterkarieren
Indes zeigt ein Blick auf die jüngste Entwicklung, dass die Einschränkungen mehr und mehr aufgehoben werden. So öffnete Zypern am Dienstag seine Flughäfen für Touristen, die Reisewarnung für Europa wird ab dem 15. Juni aufgehoben. Zwar betonte der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD), dass eine zweite Infektionswelle auf jeden Fall vermieden werden müsse – ob dies gelingt, wird sich erst noch zeigen müssen.
Dass es große Unterschiede in den Einschätzungen gibt, macht auch die jüngste Äußerung des Virologen Hendrik Streeck deutlich. Dieser plädiert dafür, „über den Sommer ein bisschen mehr Mut zu erlauben“, und womöglich sogar eine Teilimmunität in der Bevölkerung aufzubauen. Zudem halte er es für interessant, dass die Kitas in den Niederlanden schon seit 5 Wochen geöffnet sind, und dass es dennoch nicht zu größeren Ausbrüchen kam. Insgesamt, so seine Einschätzung, erwarte er keine zweite Welle ähnlichen Ausmaßes. Dennoch könne er „weder Warnung noch Entwarnung“ geben.