In der Shanidar-Höhle im Irak haben Archäologen die Überreste einer rund 75.000 Jahre alten Neandertalerin entdeckt. Wie die Universität Cambridge am Mittwoch in einer Pressemitteilung mitteilte, wurde der Schädel der Frau aus Hunderten von Knochenfragmenten zusammengesetzt und ihr Gesicht für die Netflix-Dokumentation „Secrets of the Neanderthals“ rekonstruiert.
Bekannte Neandertaler-Höhle
Nach aktuellem Wissensstand sind die Neandertaler vor etwa 40.000 Jahren ausgestorben. Entsprechend rar sind Funde von Überresten. Tatsächlich ist Shanidar Z, wie die Forscher das Exemplar tauften, der erste aus der Höhle seit über fünfzig Jahren und vielleicht das am besten erhaltene Individuum.
Um das Gesicht der als „Shanidar Z“ bezeichneten Neandertalerin zu rekonstruieren, mussten die Forscher eine enorme Puzzlearbeit leisten. Der nur zwei Zentimeter dicke, flachgedrückte Schädel wurde vorsichtig freigelegt und in dutzenden kleinen Blöcken aus der Höhle geborgen. Das Problem: Der Kopf wurde relativ bald nach dem Tod zertrümmert, möglicherweise durch Steinschlag, und dann im Laufe der Zeit durch Sedimente weiter verdichtet. Über 200 Schädelteile mussten die Wissenschaftler zu einem Ganzen formen. Mittels Forensik-Methoden konnten sie die Lage der Knochen nach dem Tod nach und nach rekonstruieren. Micro-CT-Scans und ein spezieller Klebstoff halfen dann dabei, die Fragmente wieder zusammenzusetzen.
„Die Schädel von Neandertalern und Menschen sehen sehr unterschiedlich aus“, so Dr. Emma Pomeroy, Paläoanthropologin am Institut für Archäologie in Cambridge. „Neandertaler-Schädel haben riesige Augenbrauen und kein Kinn, und das Mittelgesicht ist vorstehend, was zu einer ausgeprägten Nase führt. Das nachgebildete Gesicht lässt jedoch vermuten, dass diese Unterschiede im Leben nicht so stark ausgeprägt waren. […] Es ist vielleicht leichter zu erkennen, wie es zu einer Kreuzung zwischen unseren Spezies kam, sodass fast jeder heute lebende Mensch noch Neandertaler-DNA hat.“
Kochspuren in Grabesnähe
Die Shanidar-Höhle Höhle war bereits in den 1950er Jahren durch die Entdeckung mehrerer Neandertalerskelette bekannt geworden, die offenbar in einer Art Bestattungsritual beigesetzt worden waren. Zudem fanden die Forscher verkohlte Reste von Wildpflanzen, Nüssen und Gräsern in der Nähe der Gräber. „Für diese Neandertaler gab es offenbar keine klare Trennung zwischen Leben und Tod“, folgert Pomeroy.
Die Entdeckungen werfen neues Licht auf die kulturellen Fähigkeiten und das Sozialleben der ausgestorbenen Menschenart. „Shanidar Z war als ältere Frau wohl ein Wissensreservoir für ihre Gruppe – und 75.000 Jahre später lernen wir immer noch von ihr“, so die Paläontologin abschließend.
Bildquelle: BBC Studios/Jamie Simonds