Denken, sprechen, bewegen – all diese Fähigkeiten, die die Menschen zu dem machten, was sie heute sind, verdanken sie dem Gehirn. Und trotz seiner essenziellen Rolle für das Leben überhaupt, ist über seine Ursprünge und Entwicklungen nur wenig bekannt. Nun könnten Wissenschaftler allerdings Hinweise auf mögliche Antworten gefunden haben – und dies in Lebewesen, die bisher als „hirnlos“ galten. In Schwämmen fand ein Team von Forschern neuronale Merkmale, die wahrscheinlich eine gewisse Kommunikation zwischen Zellen ermöglicht. Den Biologen zu Folge könnten diese Zellen Rückschlüsse auf die Entstehung des Gehirns zulassen.
Von hirnlosen Tieren über das Gehirn lernen
Ungefähr 86 Milliarden Neuronen zählt das menschliche zentrale Nervensystem. Neben dem Bewusstsein steuert es auch Bewegung und Verständnis für die Umwelt. Es wird angenommen, dass die ersten tierischen Gehirne vor hunderten Millionen Jahren entstanden sein müssen. Heutzutage gibt es nur noch wenige Lebewesen, die gänzlich ohne Gehirn auskommen. Doch genau diese könnten wichtige Erkenntnisse über die Entwicklung des komplexesten Organs des Körpers liefern.
Für ihre Forschung untersuchte ein Team von Wissenschaftlern des European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg (EMBL) um Detlev Arendt den Aufbau von Meeresschwämmen. Während beim Menschen die einzelnen Neuronen über Synapsen miteinander verbunden sind, konnte dies in Schwämmen bis jetzt nicht nachgewiesen werden. Aber trotzdem enthält ihr Genom „Baupläne“ für synaptische Strukturen. Welche Rolle das Team diesen Zellen zuschreibt, veröffentlichten sie in ihrer Studie nun im Fachjournal „Nature„.
Synaptische Gene auch ohne Gehirn aktiv
„Wir wissen, dass die synaptischen Gene bei weiter entwickelten Tieren in der neuronalen Funktion beteiligt sind. Der Fund dieser in primitiven Spezies wie Schwämmen wirft die Frage auf: Wenn diese Tiere kein Gehirn haben, welche Rolle spielen dann diese Gene?“, begründet Hauptautor Detlev Arendt den Forschungsansatz in einer Pressemitteilung des EMBL.
Um diese Frage zu beantworteten, analysierten die Forscher die genetische Aktivität von einzelnen Zellen des Süßwasserschwamms Spongilla lacustris. Da davon ausgegangen wird, dass sich das Leben auf der Erde in den Urmeeren entwickelt hat, könnten die Schwämme Verwandte von Vorfahren vieler Tiere sein. Auch wenn sie dem Tierreich zu geordnet werden, zeigen sie einen primitiven Bau. Bei der Untersuchung konnten die Heidelberger Biologen zeigen, „dass bestimmte Zellen in den Verdauungskammern des Schwamms die synaptische Gene aktivieren. Selbst bei einem primitiven Tier ohne Synapsen, sind die synaptischen Gene also in bestimmten Teilen des Körpers aktiv“, sagt Dr. Jacob Musser, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hauptautor.
Schon Schwämme dachten mit dem Magen
Die oben genannten Verdauungskammer nutzen die Schwämme, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern und mit Mikroorganismen in der Umwelt zu interagieren. Um die genaue Funktion der synaptischen Gene für diese Kammern zu klären, schlossen sich die Forscher mit sechs anderen EMBL-Teams aus ganz Europa zusammen. Mithilfe von Elektronenmikroskopie konnten die Wissenschaftler dreidimensionale Bilder erstellen, welche zeigen, wie die Zellen durch die Verdauungskammer krabbeln. Ihre Funktion dabei schien zu sein, entweder Eindringlinge zu erkennen und zu eliminieren oder sich durch die Bildung langer Arme um Verdauungszellen zu schlingen und somit eine Kommunikation herzustellen, die derer von Synapsen ähnelt.
Die Ähnlichkeit zu den Vorgängen im Gehirn heutiger Tiere ist kaum von der Hand zu weisen. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Zellen, die die Ernährung regulieren und die mikrobielle Umgebung kontrollieren, mögliche evolutionäre Vorläufer der ersten tierischen Gehirne sind“, fasst Dr. Musser die Ergebnisse zusammen. „Das ist ein echter Denkanstoß.“
Bild von Xandra_Iryna auf Pixabay